Sprechende Bäume

In vielen Gegenden der Welt findet man Bäume, die über die Macht der Sprache verfügen. Manchmal wendet sich der Baum selbst an einen Menschen, der Hilfe benötigt, manchmal ist es ein Geist, der im Baum haust und einen Zauberspruch oder eine nützliche Information ausspricht. Bäume haben sehr viel Zeit zum Überlegen und Beobachten und nehmen in philosophischer Weise ihr Schicksal an. Sie wollen allen Wesen dieser Welt - vom Holzfäller bis zum Specht - dienlich sein. Dementsprechend hat ihre Rede immer etwas Beratendes oder Hilfreiches. Ein Beispiel ist die inzwischen mehrere Jahrhunderte alte Bemberg-Eiche. Dieser edle Baum beantwortet die Fragen der Liebenden nach der Treue ihrer Partner.

Viele Generationen lang stand im Sherwood Forest eine Ulme, bis sie von der Holländischen Ulmenkrankheit befallen wurde. Bis dahin suchten vor allem Jäger auf der Suche nach jagdbarem Wild ihren Rat. Doch ihre Antworten waren oft ein einziges Rätsel, wenn sie etwa sagte: »Wenn der Westwind meine Zweige schüttelt, dann wird der Hirsch deine Pfeile auf die Probe stellen. Bläst aber der Ostwind und wirbelt die Blätter zu deinen Füßen auf, dann halte Ausschau nach pelzigen Hasen als deiner Mahlzeit.«

Auf der Pazifikinsel Tonga erinnern sich die Inselbewohner, daß einer ihrer Vorfahren, Longapoa, einst von einem freundlichen Baum vor dem Hungertod bewahrt wurde. Als er mit dem Kanu unterwegs war, erlitt er Schiffbruch und wurde auf eine Insel gespült, auf der er nichts zu essen fand. Da hörte ein Puko-Baum ihn, als er gerade sein Schicksal beklagte, und riet ihm, einen seiner Äste abzubrechen und ihn in einem Erdofen zu backen. Als Longapoa den Ofen aufbrach, entdeckte er, daß aus dem Zweig ein saftiges Stück Schweinefleisch geworden ist. Auch die Yamswurzel dazu fehlte nicht.

Es ist offenbar schwierig, die Baumstimmen zu beschreiben. Wer sie schon einmal gehört hat, sagt, sie klingen wie Seufzen, Murmeln und Stöhnen gleichzeitig. Große Bäume reden laut und kräftig, während kleinere, dünnere so leise flüstern, daß man sie kaum versteht. Immer wenn ein Baum ganz deutlich spricht und womöglich noch mit der Stimme eines jungen Mannes, kann man davon ausgehen, daß nicht der Baum spricht, sondern ein Geist, der in seinem Stamm wohnt. In einem solchen Fall muß man jeden Ratschlag mit Vorsicht genießen. Die Baumgeister sind zwar meistens harmlos und behilflich, aber es gibt auch ausgesprochen böse.

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