Getreidegötter und -wächter

Sie schenken den Menschen das für ihre Ernährung so wichtige Getreide und behüten es. Es gibt in den einzelnen Regionen die unterschiedlichsten Götter und Wächter. Einige von ihnen erschufen verschiedene Getreidearten, andere verteidigen sie gegen teuflische Geister, die andernfalls die Halme abschneiden würden, und eine dritte Wächterart vernichtet Insekten und andere schädliche Tiere, die in den Getreidefeldern wüten.

Die Göttin Demeter schenkte der Menschheit die ersten Samenkörner des Weizens und lehrte Triptulemus, die Erde zu bearbeiten und Brot aus dem Getreide zu machen. Er wurde ihr Missionar und brachte die Kunst des Weizenanbaus in alle Länder rund ums Mittelmeer. Dabei wurde er unterstützt von Göttern wie Adonis, der in jedem Weizenkorn, das in Phönizien heranreifte, selber lebte, von Ceres, die aus dem grünen Weizen goldfarbenen macht, und von Flora, die das Getreide vor Krankheiten beschützt.

Als die grüne Flutwelle des Weizens schon über Europa und Asien hinwegspülte, erschufen die Götter anderer Länder andere Getreidearten. In Nordamerika gab der Herr der Winde seinem Sohn Iosheka ein Maiskorn, und er brachte den Indianerstämmen der Huronen und der Irokesen den Anbau der goldenen Maiskolben bei. In Asien beschenkten verschiedene Götter ihre Anbetenden mit Reis, und Inari, der japanische Reisgott, bewacht und vermehrt heute noch den Reisanbau. Zwei Füchse begleiten ihn dabei. Sie bringen seine Anweisungen zu den Bauern. Wenn ein Bauer einen Fuchs durch sein Reisfeld schnüren sieht, so sollte er ihn niemals davonjagen, denn es könnte einer von Inaris Boten sein, der den Fortschritt des Wachstums begutachtet.

Europäische Bauern hängen von einer ganzen Anzahl von Wesen ab, die für ihre Getreidefelder sorgen. In Nordeuropa bewachen unsichtbare Meuten von Weizen- oder Roggenhunden die Felder und jagen die Teufelsgeister fort. Diese Wächter sind so leichtfüßig, daß sie über die aufrecht stehenden Halme gehen können, doch verraten sie sich durch die Wellen, die dann über ein Weizenfeld laufen. Manche Leute glauben zwar, diese werden vom Wind verursacht, doch in Wirklichkeit sind es die Wachhunde, die die Teufel von den Feldern scheuchen.

In Rußland achten die Poleviki und Poludnitsy auf die riesigen Getreidefelder. Die Poleviki sehen fast menschlich aus, und ihre Haare und Bärte sind so grün wie junger Weizen. Die Poludnitsy hingegen sind hübsche junge Mädchen mit Haaren so golden wie Weizenstroh. Diese beiden Feldgeister bestrafen Eindringlinge, gehen aber auch recht hart mit faulen Bauern um, die sich nicht genügend um ihre Felder kümmern.

In England sagt man zum Weizen »Korn«, und so hat jede Farm ihren eigenen weiblichen Korngeist. Dieser taucht auf, sobald sich die ersten grünen Sprossen durch die Erde wühlen, und lebt dann mitten im wachsenden Getreide, wo er zum Wachstum und zur Reifung der Ähren beiträgt. Wenn die Bauern das reife Korn ernten und es in Garben aufstellen, zieht sich der Korngeist von einem Feld zum nächsten zurück, bis nur noch so viel Korn steht, daß es für eine Garbe reicht. Die Erntearbeiter nähern sich diesem Feldstück in großer Ehrerbietung, denn die Sichel, die das Ietzte Korn schneidet, könnte auch den Korngeist töten. So schneiden sie die letzten Halme mit aller Vorsicht und machen daraus eine Kornpuppe, die sie bis zum nächsten Jahr aufheben. Zu gegebener Zeit verläßt der Korngeist die Kornpuppe und fängt wieder mit seiner Arbeit an.